Wie erkläre ich es meinem Kind: Internet in der DDR

Ich hatte heute ein längeres Gespräch mit einer Journalistin, die fragen zur DDR-Top-level-domain ".dd" hatte. Das Gespräch war lang. Allerdings stellte sich schnell heraus, dass sie zu jung ist, um sich die Realität von vor 30 Jahren vorstellen zu können.

Probleme beim Telefonat

Zuerst kam es zu einem Verständnisproblem der gesellschaftlichen Situation. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass man nicht einfach mal in den USA bei Jon Postel anruft, um eine Länderdomain zu registrieren.

Insbesondere gelang es mir nicht, ihr begreiflich zu machen, welche politische Dimension diese Anfrage hat. Ein Mitarbeiter an einer Universität kann nicht im Namen des gesamten Landes sprechen und handeln.

Wesentlich schwerwiegender waren allerdings die inzwischen eingefahrenen Gedankenwege der "Digital Natives". Sie können es sich schlicht nicht vorstellen, ohne Internet und Smartphone zu agieren.

Eine der Fragen war, ob ich ein spontanes Foto hätte, wie ich in der Uni an einem Rechner (es war damals PC-10) sitze. Ganz abgesehen davon, ob diese Aufnahme auf Papier/Film vorliegen könnte, zeigt es das Selbstverständnis eines "Ich dokumentiere mein Leben mit Selfies"-Typs.

Erklärungen im Nachgang

Kurz danach kam eine Liste von Fragen, die es wert sind, halbwegs ernsthaft beantwortet zu werden. Es sind Fragen, die aus der Sicht meiner Kinder gestellt werden könnten. Deswegen veröffentliche ich hier meine Antworten.

Andererseits kann man schon die Frage stellen, ob nicht jemand, der das beruflich macht, mehr vom Telefonat hätte mitnehmen können. Vielleicht sind die Fragen aber auch nur zur Einholung von Zitaten erneut gestellt und pointiert überhöht. Möglicherweise habe ich auch nicht sauber genug erklärt.

Gab es in der DDR bei diesen „internetähnlichen“ Kommunikation auch Dienste, die mit heutiger „GOOGLE“ Suchmaschine zu vergleichen sind? Wenn ja, erklären Sie mir wie und wer dieses Verfahren genutzt hat.

Ja, es gab (und gibt) an den Bibliotheken der Städte, Universitäten und Firmen die Möglichkeit der Katalogrecherche (https://de.wikipedia.org/wiki/Bibliothekskatalog). War die gewünschte Information nicht lokal in der Bibliothek vorrätig, so bediente man sich der Fernleihe (https://de.wikipedia.org/wiki/Fernleihe).

Benennen Sie die drei wichtigsten Gründe, warum die DDR nicht ins World Wide Web gestartet ist und erklären Sie warum.

Der allerwichtigste Grund warum die DDR nicht ins WWW gestartet ist, ist die historische Kausalität. Die DDR ist untergegangen (1990 siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Wende_und_friedliche_Revolution_in_der_DDR), bevor das WWW erfunden wurde (1991 siehe https://de.wikipedia.org/wiki/World_Wide_Web). Lediglich die rechtzeitige Erfindung einer Zeitmaschine (https://de.wikipedia.org/wiki/Zeitmaschine) hätte der DDR das WWW bringen können. Dazu ist es aber bis jetzt nicht gekommen.
Der zweite Grund ist, dass für den Betrieb eines Servers (https://de.wikipedia.org/wiki/Server) am Internet eine Standleitung (https://de.wikipedia.org/wiki/Standleitung) benötigt wird, die zu einem anderen Knoten des Internets reicht. Zu dem damaligen Zeitpunkt waren Leitungen (insbesondere Weitverkehrsleitungen) ein sehr rares Gut. Das dauerhafte Belegen einer Telefonwählleitung wurde (und wird) als Fehler behandelt und die Verbindung amtsseitig getrennt. Eine grenzüberschreitende Leitung ins NSW (https://de.wikipedia.org/wiki/Nichtsozialistisches_Wirtschaftsgebiet) stellte eine unüberwindliche politische Hürde da.
Der dritte Grund ist, dass zu dem Zeitpunkt das Internet (https://de.wikipedia.org/wiki/Internet#Ab_1989_Kommerzialisierung_und_das_WWW) als nicht relevant eingestuft wurde. Stattdessen beschäftigten sich die an Netzwerken interessierten Personen mit OSI (https://de.wikipedia.org/wiki/OSI-Modell), i.d.R. also mit X.25 Netzwerken (https://de.wikipedia.org/wiki/X.25). Wer sich mit Internet beschäftigte, war ein akademischer Außenseiter.
Bonus-Info: Zu den ersten deutschen Webseiten *nach der Wende* gehört das Sekteninformationssystem Religio (http://www.religio.de/) aus Thüringen, dass ab 1992 startete.

Beschreiben Sie mir wie sich das  „Surfen“ in Alltag der DDR gestaltete? Was hat man dafür gebraucht und wie funktionierte es. (Sie haben bereits erwähnt, es gab Bastler, die diese Technik zuhause ausgetestet haben).

Da das "Surfen" in der angefragten Zeit noch gar nicht möglich war (mangels WWW), benutzte man andere Formen der elektronischen Kommunikation. Die einzige nennenswerte Verbreitung hatten die Mailbox-Netze (https://de.wikipedia.org/wiki/Mailbox_(Computer)) die nur kurze Telefonverbindungen benötigten. Der Betreiber einer Mailbox musste den Familien-Telefonanschluss (wenn der überhaupt vorhanden war) zweckentfremden. Es war also während der Kommunikation eines Mailboxnutzers oder der Mailbox selbst nicht möglich, das Telefon zu benutzen. Auch musste die Familie lernen, mit dem kurzen Anklingeln durch andere Rechner klar zu kommen. So durfte man nicht sofort ans Telefon gehen, sondern erst, wenn das Klingeln nicht aufhörte.
Daneben gab es erste Internet-Experimente von Enthusiasten in einzelnen Laboren einzelner Universitäten. Dabei wurde höchstens eine Handvoll Rechner lokal zusammen geschaltet. Diese Netze verließen den Laborraum praktisch nicht.

Gibt es offizielle Zahlen, wie viele Bürger damals das „interne“ Internet genutzt haben?

Mangels Internet gab es gar keine Nutzer.

Welche Reaktionen und Folgen hätte das Internet in der DDR, wenn die Domain offiziell genehmigt worden wäre und die Bürger hätten auch „außerhalb“ kommunizieren können?

Die Existenz der Top-Level-Domain ".dd" (https://de.wikipedia.org/wiki/.dd) ist allein durch den reservierten Eintrag in der internationalen Liste der offiziellen Abkürzungen von Ländernamen (https://de.wikipedia.org/wiki/ISO-3166-1-Kodierliste) gerechtfertigt. Die bei einzelnen Experimenten an einzelnen Universitäten benötigten Namen wurden von den Beteiligten durchaus mit dem kanonischen Namen "kiste.uni-xxx.dd" benutzt. Eine über solche Testaufbauten hinaus gehende Verwendung ist nicht bekannt.
Aus der Geschichte der Mailboxnetze vor allem im Zusammenhang mit den Friedensbibliotheken im Vorfeld der Wende zeigt, dass eine aktive Kommunikation aus kleinen Gruppen große Bewegungen machen kann.
Die Kommunikation der DDR-Bürger mit dem Ausland entsprach durchaus den damals üblichen Standards: Es wurden Briefe geschrieben, telefoniert und sich getroffen. Alles natürlich im Rahmen der geltenden Möglichkeiten.

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Karl 05.06.2018 18:52
Zu der Frage "Google vor dem Internet" möchte ich auf folgendes Buch hinweisen:

Anton Tantner
Die ersten Suchmaschinen - Adressbüros, Fragämter, Intelligenz-Comptoirs
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 2015, isbn 978-3-8031-3654-1
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jcarnelian 23.10.2017 23:22
@Pascal Klein das ist Unsinn. Das Internet wurde in den 70ern entwickelt, aus einem militärisch-wissenschaftlichen Projekt hervorgegangen (ausfalltolerante (nicht atomkriegsicher, das ist eine Ente) Kommunikation unter Computern), darauf hin wurden Universitäten angeschlossen und es entwickelte sich eine Protokollfamilie, die es ermöglichte, die verschiedensten Systeme untereinander zu verbinden und Daten statt per Stream über ein paketorientiertes Netzwek zu schicken, was den Vorteil hatte, dass Pakete die falsch oder unvollständig ankamen, neu angefordert werden konnten ohne die ganze Kommunikation von vorn beginnen zu müssen (TCP).

Das was nach der Wende entwickelt wurde, war das WWW. Das WWW ist nicht das Internet, sondern ein Protokoll der Anwendungschicht (HTTP). Genau genommen könnte man das WWW auch über andere Verbindungen als TCP/IP-basierte Netze schicken (etwa IPX/SPX). TCP/IP ist das Internet (und UDP kommt da noch dazu, etwa für DNS).

Das WWW wurde auch nicht entwickelt, um die DDR anschließen zu können, sondern weil das CERN das Problem hatte, einen Haufen an Daten Publikationen zu produzieren, die mit vor-WWW-Technologie nur schwer zu organisieren (genauer: verlinken) waren. Also hatte Berners-Lee die Idee, Hypertexte zu nutzen, die querverweise ermöglichten. Daraus entstand HTTP und schließlich WWW.

Internet heißt das ganze deswegen, weil ein Netzwerk einer Universität so mit dem Netzwerk eines Regierungscomputers o.ä. kommunizieren konnte, solange auch nur irgend ein Node im jeweiligen Netzwerk IP sprechen konnte.
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Pascal Klein 23.10.2017 13:07
Zitat: "Der allerwichtigste Grund warum die DDR nicht ins WWW gestartet ist, ist die historische Kausalität. Die DDR ist untergegangen, bevor das WWW erfunden wurde."
Zur damaligen Zeit gab es viele kleine Netzwerke rund um die Welt. Ich würde die Kausalität daher nicht nur darin sehen, dass das Internet nach der Wende entwickelt wurde - es wurde tatsächlich entwickelt WEGEN der Wende. Denn durch die Wende und den Zusammenbruch des Ostblocks war es erstmals möglich die vielen kleinen Netzwerke, die sich bereits entwickelt hatten, tatsächlich zusammenzuschalten und so den militärischen Grundgedanken, den viele der Netzwerke damals besaßen, in einen zivilen umzuwandeln.
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Dirk 23.10.2017 09:42
Nein, das war in der DDR mit den gesendeten Programmen. Ich hatte einen KC 87, auf dem einige Programme liefen (die meisten waren für KC 85). Die meisten Programme waren in BasiCode. Um den lauffähig zu bekommen gab es das passende Programm auf Schallplatte. Hinter dem ganzen steckte ein rühriger Prof. aus der DDR.
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Thorsten Gorch 22.10.2017 13:48
Internet gab es zwar nicht aber X.25. Nach meiner Erinnerungen wurde seit > '75 auf X25 basierende Systeme "entwickelt" also vom Westen kopiert unter den technischen Möglichkeiten des Ostblocks --> Paketvermittlungssystem A7800. Ich kann mich noch an einen Ausflug von unserer Computer AG erinnern wo uns das Ergebnis gezeigt wurde.
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Thorsten Gorch 22.10.2017 13:31
@Bernd Zeller
Dirk erinnert sich korrekt. Gab es auch in der DDR2 und DT64 (siehe http://www.kc85emu.de/scans/fa0589/REM.htm ).

Ich erinnere mich auch noch wie ich das aufzeichnete und mich in gefühlt 1/3 der Fälle freute das es funktionierte.
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Herr Bert 22.10.2017 13:22
Wie alle auf der Journalistin rumhacken.
Die Fleißarbeit des Abfragens wird eine Volontärin innegehabt haben. Nutzt solche Interviews lieber als Gelegenheit zu lehren, als zu spotten.
Besonders Spaßig finde ich den Kommentar: "Die Antworten hätte sie auch selbst in der Wikipedia nachschlagen können" - Wisst Ihr, wo die Texte auf Wiki herkommen?

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Bernd Zeller 22.10.2017 11:16
Was der erste Kommentator, Dirk, meint, war im Westradio, RIAS2, da wurde das gemacht, nicht in der DDR.

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